Kennen Sie das? Sie haben so vieles über die Vorteile eines Linux gegenüber anderen Betriebssystemen gehört und möchten mit dem Desktop-PC gerne umsteigen. Und dann stehen Sie vor der ersten großen Hürde: Die Wahl der richtigen Distribution. Denn daß es nur »ein« Linux gibt, ist ein Irrglaube!
Ein Linux-Betriebssystem besteht, einfach gesprochen, immer aus dem sog. Kernel (der zwischen Hardware und Software vermittelt) und einer Betriebssystem-Oberfläche, genannt desktop environment oder deutsch »Desktop-Umgebung«. Dazu kommen zahlreiche Programme, die man aus öffentlich zugängigen Paketquellen beziehen kann. Eine Linux-Distribution ist nun nichts anderes als eine Zusammenstellung aus Kernel, einer Desktop-Umgebung und einer Auswahl von Programmen, beispielsweise Büro-Software, Video- und Audio-Player.
Soweit die Theorie. Aber welche Distribution soll man denn nun wählen? Welche Distributionen gibt es überhaupt und worin unterscheiden sie sich?
Dazu muß man verstehen, daß alle Distribution mehr oder weniger nah verwandt sind. Viele sprießen aus dem Boden und verschwinden ebenso schnell, wie sie gekommen sind. Andere werden dauerhaft entwickelt, und/oder davon abgeleitet (fork). Distributionen werden daher, je nach ihrer »Abstammung« in sog. Derivate gegliedert. Arch und Debian sind nur zwei dieser Derivate, und in jedes Derivat gliedern sich Dutzende Distributionen ein. Die Wikipedia liefert dazu (mehr oder weniger) übersichtliche Stammbäume.
Derivate (und die davon abgeleiteten Distributionen) unterscheiden sich häufig in Punkten wie Aktualisierungszyklus, Paket- und Systemverwaltung. Arch-Distributionen (z.B. Manjaro) werden durch sog. rolling releases aktualisiert, d.h. man erhält ununterbrochen Updates für seine Softwarepakete. Gut für diejenigen Anwender, die gerne immer die neueste Version haben möchten. Das kann allerdings auch auf Kosten der Systemstabilität gehen. Debian-basierte Distributionen (z.B. Ubuntu) bieten dagegen auch LTS-Versionen (long term support, Langzeitunterstützung), d.h. es gibt Major Releases, die einige Jahre mit Sicherheitsupdates versorgt werden, und Zwischen-Veröffentlichungen. Wer die neueste Software will, muß dann entweder auf das neue Release warten oder sich anders behelfen (z.B. mit PPAs). Die LTS-Strategie ist bei großen Unternehmen (auch Behörden) gern gesehen, denn dann hat die IT-Abteilung nicht so viel Arbeit :) Man setzt auf stabile Programmversionen, und damit ein stabiles Betriebssystem, um das man sich einige Jahre wenig sorgen muß.
Die Wahl der Distribution hängt außerdem entscheidend von der zur Verfügung stehenden Hardware ab: Soll ein alter Laptop vom Dachboden wiederbelebt werden? Oder möchte man ein Gaming-System einrichten?
Zumeist gibt es einen direkten Zusammenhang zwischen Arbeitsgeschwindigkeit und Desktop-Umgebung. Einige von denen enthalten Animationen und andere Spielereien. Das sieht schick aus, fordert aber Prozessorleistung. Andere Desktop-Oberflächen sind unerhört sparsam, denn sie nutzen einen ressourcenschonenden Window-Manager (z.B. Openbox).
Dazu kommt noch, daß moderne Distributionen nur noch 64-bit-Systeme unterstützen. Gerade alte Hardware verlangt aber 32-bit-Betriebssysteme. Auch hierfür gibt es spezielle Distributionen, die auf den Betrieb alter Hardware spezialisiert sind.
Die Hardware-Erkennung ist zuweilen unterschiedlich. Eine gute Hardware-Erkennung (für Kamera, Bluetooth, LAN, Scanner und Drucker etc.) bringt Linux Mint mit. Auf einem OpenSUSE kann es manchmal zum Krampf werden, das eine oder andere Gerät zum Betrieb zu bewegen. Man sollte sich von diesen Vorurteilen allerdings lösen. Es kann sein, daß auch mit einem OpenSUSE sofort alles korrekt erkannt wird (out-of-the-box).
Aktivisten freier Software boykottieren proprietäre Formate und Programmcode; sie nutzen Distributionen wie gNewSense (siehe unten). Wird ausschließlich auf freie Software gebaut, kann man aber auch Formate wie mp3 nicht abspielen, und ggf. läuft die Hardware nicht korrekt oder eingeschränkt (nur Basisfunktionen). Ist der Aktivismus hinreichend ausgeprägt, kann man sich bewußt für so eine Distribution entscheiden; wird dann aber nicht alle Medien und Hardware nutzen können. Diese philosophische Frage muß jeder selbst klären.
Ein weiterer Punkt sind hochauflösende Displays. Bei einer Auflösung von 2160 mal 1440 können die Icons und Buchstaben sehr klein wirken. Die Änderung der Bildschirmauflösung führt dann zwar zu einer Vergrößerung, allerdings verpixeln die Elemente. Manche Desktop-Umgebungen (Cinnamon, KDE u.a.) bieten dagegen die Funktionalität der sog. Skalierbarkeit, d.h. man kann den gesamten Desktop mit einer frei einstellbaren Skalierung (z.B. 125 %) »hochrechnen« lassen.
All diese Dinge sollte man bedenken, bevor man sich auf eine bestimmte Distribution einläßt! Eine gute Möglichkeit, die Funktionalität aller Komponenten vorab zu prüfen, ist der Gebrauch von sog. Live-Systemen (siehe unten).
Jetzt kommen wir zum wichtigsten – der Desktop-Umgebung. Denn sie ist es, mit der man letztlich arbeitet und mit der man sich identifiziert.
In den letzten Jahren ist die Zahl der verfügbaren Desktop-Umgebungen erheblich angestiegen. Dazu zwei gute Nachrichten:
Mit anderen Worten: Man sollte sich nicht zu sehr auf die Distribution versteifen, sondern eher die richtige Desktop-Umgebung auswählen. Jede hat ihren eigenen Fanclub, und jede kann als Geschmackssache ausgelegt werden. Wer sich mit Xfce als Desktop-Umgebung angefreundet hat, kann diese sowohl mit einem Linux Mint als auch mit einem Ubuntu oder Manjaro oder Gentoo usf. als »Unterbau« = Distribution verwenden.
Bei der Mehrfach-Installation von Desktop-Umgebungen sollte bedacht werden, daß einige von ihnen auf dieselben Konfigurationsdateien zugreifen. Das kann im Ergebnis zu eigenartigen, manchmal fehlerhaften Darstellungen führen.
Distributionen greifen normalerweise auf eine oder mehrere sog. Paketquellen zurück, in der Software (Programm-Pakete) gepflegt werden, und die über das Internet ins Betriebssystem eingespielt werden.
Auch die Qualität der Paketquellen kann heterogen ausfallen. Wenn sich bestimmte Programme dort nicht finden, kann man zusätzliche Quellen eröffnen, unter Ubuntu beispielsweise mithilfe sog. PPAs (personal package archive), unter Arch-Distributionen mit dem sog. AUR (arch user repository).
Davon abgesehen, wird Software mit Linux-Unterstützung auch in anderen Formaten angeboten. Von den Webseiten lädt man dann .deb-Dateien oder AppImages, die sich dann manuell installieren bzw. starten lassen.
Viele Desktop-Umgebungen behaupten auf ihren Webseiten, besonders einsteigerfreundlich und leicht nutzbar zu sein. Einige tönen mit Minimalismus, andere mit tiefgreifendem Funktionsumfang.
Es ist wahr, daß manche Distributionen es dem Anwender (Zielgruppe: der unbedarfte Nutzer) besonders leichtmachen: Installation, Einrichtung und Daten-Migrationen sind mit Assistenten hinterlegt, und jeder Schimpanse kann verstehen, wie das funktioniert. Das kann bis zur gefühlten Bevormundung gehen (GNOME hat leider viel von seinem ehemaligen Charme eingebüßt; und das mittlerweile eingestellte Unity war nutzerunfreundlich, weil es gleichzeitig für Desktop, Tablett-Computer und andere kleine Bildschirme eine einheitliche Oberfläche und Bedienung erzwang).
Manche Distributionen imitieren sogar eine Windows-Oberfläche durch Nachbau (Zorin OS)! Das dumme Vorurteil, daß Linux-Nutzer alles auf der gefürchteten Konsole zu erledigen haben, sollte endlich verschwinden! Tatsächlich ist die Konsole stets eine zusätzliche Möglichkeit, Arbeitsabläufe effizienter und bequemer zu erledigen.
Andere Distributionen sind bekannt dafür, bis aufs Mark konfiguriert und an eigene Bedürfnisse angepaßt zu werden (KDE als Beispiel). Wie gesagt beeinflußt die »Wuchtigkeit« der Desktop-Umgebung letztendlich auch die Arbeitsgeschwindigkeit des Systems (KDE als Riese, LXDE für leistungsschwache Hardware). Erfahrene Anwender werden ihr Augenmerk vielleicht auf eine Distribution (Arch, Gentoo) richten, die ihnen allein die Kernkomponenten installiert – davon ausgehend kann dann ihr ganz eigenes System zusammengestellt werden. Individueller geht es nicht.
GNOME hat sich seit seinen goldenen Tagen (Version 2.x) meiner Ansicht nach so weit ins Aus entwickelt, daß ich damit nie produktiv arbeiten möchte. Das betrifft die Fensterverwaltung, den abgespeckten Dateimanager, die an Tabletts orientierte Anordnung von Apps etc. All das brauche ich nicht auf einem Arbeits-Rechner. Trotzdem kann die GNOME-Oberfläche ein Einstiegspunkt für Neulinge bedeuten. Von GNOME abgeleitet ist die Oberfläche MATE, die sich an dem ursprünglichen, beliebten GNOME-Desktop orientiert.
KDE (Plasma) bietet ein Rundum-Paket und ist tiefgreifend konfigurierbar. Leider braucht man für den Spaß einen performanten Rechner, auch wenn sich nachträglich zahlreiche optische Spielereien wieder deaktivieren lassen. Bemerkenswert ist dabei eine Sammlung KDE-eigene Programme (die sich unter anderen Desktops meist auch nutzen lassen), die kaum etwas vermissen lassen und dem Nutzer alle Komponenten in einem einheitlichen Aussehen präsentieren. Kontact ist ein klasse PIM (sensu Outlook), und den Dateimanager Dolphin halte ich bis heute für einen der besten seiner Art mit GUI.
Der Gtk-basierte Desktop XFCE ist für ältere Hardware empfehlenswert, die nicht auf elegantes Aussehen verzichten wollen. Man sollte allerdings wissen, daß der Funktionsumfang geringer ist als beispielsweise bei einem großen Desktop wie KDE.
Noch anspruchsloser ist LXDE. Dem flinken Desktop merkt man allerdings an, daß kein vereinigendes Konzept existiert; die einzelnen Programme wirken weniger wie »aus einem Guß«.
Fluxbox ist eigentlich weder eine Distribution noch eine Desktop-Umgebung (wie GNOME oder Xfce), sondern ein einzelner, sehr minimalistischer Window-Manager. Er ist bekannt für seinen extrem ressourcenschonenden Verbrauch, entsprechend fix läuft er auf allen Systemen, auch uralten. Fluxbox ist bemerkenswert frei konfigurierbar, was über die Bearbeitung von Config-Dateien geschieht. Das Konzept des Minimalismus wird elegant umgesetzt.
Jede Distribution verfolgt eine eigene Philosophie. Manche wurden speziell so konfiguriert, daß sie von Schulkindern benutzt werden können, oder daß sie alle wichtigen Werkzeuge für IT-Sicherheitsspezialisten enthalten. Der Unterbau ist dabei gar nicht so entscheidend, sondern die Paketauswahl und voreingestellte Konfiguration.
Auf der Seite von Distrochooser kann man sich durch Fragen klicken, die Vorlieben und Anforderungen abfragen. Am Ende wird die am besten dazu passende Distribution genannt.
Die Seite DistroWatch vereint zahlreiche Informationen zu Linux-Distributionen inkl. Ranking der (angenommenen) Popularität.
Für viele Distributionen gibt es einen sog. Live-Modus, d.h. das Betriebssystem wird von Disc oder Flash-Speicher nur in den Arbeitsspeicher des Computers geladen. Das hat den unermeßlichen Vorzug, daß vorher alles ausprobiert werden kann:
Ist man zufrieden, läßt sich die Installation des Betriebssystems auf die Festplatte vornehmen. Andernfalls bootet man den PC neu und alles ist wie zuvor.
Diese Frage stellt sich im Prinzip nur für Linux-Neulinge. Fortgeschrittene Nutzer haben ihre eigenen Erfahrungen mit Desktop-Umgebungen und Distributionen; sie wählen nach ihren Vorlieben aus.
Für gewöhnlich wird sich ein Einsteiger auch nicht mit einem Uralt-System abgeben. Er hat vermutlich einen handelsüblichen PC oder Laptop.
Für Linux-Neulinge ist die Distribution Linux Mint immer eine gute Wahl. Grund dafür ist eine gute Hardware-Erkennung und die unkomplizierte Nutzung proprietärer Formate zum Abspielen von DVDs oder mp3-Dateien. Darüber hinaus werden populäre Pakete bereitgestellt, die in den Paketquellen aus lizenzrechtlichen Gründen normalerweise fehlen, etwa Google Earth.
Linux Mint kommt mit verschiedenen Desktop-Umgebungen, die bloße Geschmackssache sind. Die hauseigene Umgebung heißt Cinnamon. Alternativ ist der Xfce-Desktop empfehlenswert. Beide bedienen sich selbsterklärend, sodaß sich Windows-Umsteiger ohne Hilfe zurechtfinden werden. Mint gilt mittlerweile als eine der beliebtesten Einsteiger-Distributionen.
Hat man erste Erfahrungen mit einem Linux gesammelt, kann man sich auch für andere Desktop-Umgebungen entscheiden. KDE zeichnet sich beispielsweise durch zahlreiche integrierte Komponenten und ein ansehnliches look & feel aus (ist aber nicht gerade ressourcenschonend). Wer die andere Richtung gehen will (Ressourcen-Sparsamkeit und Minimalismus), der sollte sich auf LXDE, LXQt, Budgie, Enlightenment (Fork: Moksha) und Trinity konzentrieren.
Für Profis ist weniger die Desktop-Umgebung entscheidend, weil ohnehin das meiste mit Konsolen-Befehlen erledigt wird. Solche Klientel gibt sich auch mit einem Texteditor und einem Webbrowser zufrieden :D Eine vollausgestattete Desktop-Umgebung kann dann die Arbeitsgeschwindigkeit eher behindern. Entscheidender ist dann der richtige Unterbau. Erfahrene Linuxer bauen sich auch gerne ihre eigene Distribution, indem sie nur Kernkomponenten installieren und sich anschließend eine eigene Desktop-Umgebung zusammenstellen. Ausgangspunkt ist immer ein Window-Manager, der mit Panels, Dateimanager und Menüs nach Bedarf angereichert wird. Für solche Vorhaben sind Arch- oder Gentoo-Distributionen geeignet.