Kleinschreibung in deutschen Texten


Einführung

Die für deutsche Texte angewendete konsequente oder gemäßigte Kleinschreibung ist für das moderne Auge eine befremdliche Sache. Tatsächlich wird sie bereits seit Jahrzehnten unter Sprach- und Schriftwissenschaftlern debattiert, die Befürworter und die Gegner mit gleichgewichtigen Argumenten bewaffnet. Sie alle haben jedoch verinnerlicht, daß etwas mit der modernen deutschen Schrift nicht zu stimmen scheint – denn sie ist die einzige lateinische Schrift, bei der jedes Substantiv großgeschrieben wird. Das findet man weder im Niederländischen noch im Französischen, Englischen, Schwedischen oder Italienischen. Die ausnahmslose Großschreibung der Substantive ist genau genommen ein die deutsche Schrift verunstaltendes Relikt, das Befürworter der Kleinschreibung wieder auszumerzen suchen.

Nicht verwechselt werden sollte das Anliegen der Kleinschreibung mit dem gewohnten Gebrauch mancher Nutzer von Internetforen, bei denen eher unbewußt durch Faulheit auf die Bedienung der Umschalt-Taste verzichtet wird. Das bestätigt sich spätestens mit dem Fehlen jedweder Interpunktion in deren Beiträgen und ist eine Frechheit gegenüber dem Leser.

Geschichtliches

Die karolingische Minuskel wurde als Verkehrsschrift unter Karl dem Großen eingeführt und bestand nur aus Kleinbuchstaben. Sie erwirkte auch eine angewandte Umschreibung aller bis dahin mit Majuskeln geschriebenen Texte. Erst später (sekundär) entwickelte sich die Hervorhebung bestimmter Wörter mit Großbuchstaben, es erfolgte eine erneute Vermischung mit dem römischen Kapital-Alphabet. Ausführliche historische Erläuterungen sind vielerorts im Internet und Büchern über Schriftentwicklung und Buchgestaltung zu finden. In Kürze: Ausgehend von liturgischen Texten (Bibel) wurden zunächst nur bedeutsame Worte hervorgehoben (HERR), später kamen immer mehr dazu (König, Papst etc.), Personen- und Ortsnamen sowieso, bis das Ganze spätestens im Barock auch auf weniger bedeutsame Substantive übergriff und sich unsere heutige Substantiv-Großschreibung endgültig durchsetzte.

Es mangelte nicht an Versuchen, zu dieser ursprünglichen Kleinschreibung zurückzufinden und die unsägliche, willkürlich anmaßende Großschreibung wieder loszuwerden. Zur Zeit des Bauhaus und Dadaismus nahm das Ganze wieder Fahrt auf, da insbesondere Bauhaus-Vertreter ihr Mantra zur Rückkehr zu möglichst einfachen Formen auf die Schrift anwendeten.

Regeln für konsequente und gemäßigte Kleinschreibung

Seit Jahrzehnten gibt es daher Befürworter und Gegner eines Kleinschreibungsgebrauchs im Deutschen (zumindest Vor-Barock-Stadium), ob nun in einer gemäßigten oder radikalen (konsequenten) Form. Sie bedeutet nichts anderes als eine gewaltige Umwälzung der heute gebräuchlichen deutschen Orthographie!

Dazwischen gibt es unzählige Varianten und Vorschläge. In Kürze: Die radikale Kleinschreibung ist am einfachsten umzusetzen und hat die wenigsten Regeln: Das römische Versalalphabet wird ignoriert, es gibt nur noch Minuskeln.

Gemäßigtere Formen geben immerhin einige wenige bis zahlreiche Regeln vor, z.B.:

  • Großschreibung am Satzanfang
  • Großschreibung bestimmter Personalpronomen (Sie, Ihr und Ableitungen)

Noch andere Vorschläge gehen weiter, insofern, als hier auch die folgenden Elemente großzuschreiben sind:

  • alle Personen- und Eigennamen (auch mythologische)
  • alle davon abgeleiteten Begriffe (Darwinismus, Pythagoreische Philosophie, Achillesverse)
  • Titel von Werken (Filme, Bücher)
  • geographische Namen (Berge, Flüsse, Landschaften etc.)
  • Bezeichnungen von Institutionen, Betrieben, Firmen, Sportgemeinschaften
  • Sterne und Sternbilder
  • Orden und Auszeichnungen
  • Feiertage
  • Tiernamen, taxonomische Begriffe
  • Verfahren und Methoden in Industrie, Wissenschaft und Technik (Haber-Bosch-Verfahren)

… und so weiter und so fort. Dabei war der theoretisch größte Vorzug der Kleinschreibung das Wegfallen jedweder Regeln zur Groß- und Kleinschreibung! Wer sich dazu weiterführend interessiert, dem empfehle ich: »Untersuchungen zu einer Reform der deutschen Orthographie« (D. Nehrius, 1975).

Thesen

Schauen wir uns mal die am häufigsten wiedergegebenen Thesen der Befürworter an. Dazu meinerseits eine kurze Einschätzung.

These: »Wozu großschreiben, wenn nicht großsprechen?« (Zitat)

Das ist ein triftiges Argument, aber dann muß man konsequent weitergehen:

  • Angleichung der letzten griechisch-lateinischen an die deutschen Schreibweisen (pf zu f, th zu t, rh zu r etc.)
  • Vereinfachung der Doppelvokale (ai zu ei, äu zu eu usw.)
  • x und chs zu ks, qu zu kw
  • Vokalverdopplungen entfernen, wo keine Mißverständnisse zu befürchten sind
  • Beseitigung anderer Uneindeutigkeiten (der Weg, ich gehe weg → gleiche Schreibweise, andere Aussprache).

These: Man muß keine zwei Alphabete lernen

Das wird sich auch bei Durchsetzung einer generellen Kleinschreibung nicht vermeiden lassen. Denn man möchte ja weiterhin international kommunizieren können, und zweitens sollen unsere Kinder auch die Druckerzeugnisse der Vergangenheit lesen können!

These: Wegfall der grammatikalischen Regeln zur Großschreibung

Ausreichend Sprachbildung vorausgesetzt, sollte das auch bislang kaum ein Problem darstellen. Heute helfen außerdem viele Rechtschreibkorrektur-Programme beim Editieren.

These: Den Migranten würde das Deutschlernen erleichtert

Da widerspreche ich. Denn das ist nicht Aufgabe der deutschen Sprache.

These: Es wird eine Zeitersparnis beim Schreiben erreicht

In der Schreibschrift (nicht geschriebenen Druckschrift!) schon, aber nicht unbedingt beim Tippen auf der Tastatur.

These: Wirtschaftliche Vorzüge

Mitte des 20. Jahrhunderts führte man das Argument an, daß durch Wegfall des Versal-Alphabets enorme Einsparungen im Setzkasten zu erreichen seien. Mittlerweile hat man festgestellt, daß die Einsparung (damals ausgedrückt als Gewicht in Kilogramm der Lettern) gar nicht so erheblich wie angenommen wäre, zumal man Versalbuchstaben nach wie vor für bestimmte Texte vorhalten mußte (ausländische Texte, Formelsatz, Titelei etc.). Heute ist das Argument der Setzkasten-Einsparung irrelevant. Auch unsere Tastatur würde sich nicht weniger verkleinern, da Versale und Minuskeln auf denselben Tasten liegen!

These: Zeitersparnis beim Lesen

Es gab zahlreiche Versuche mit Testpersonen, ohne daß sich ein eindeutiges Ergebnis herausstellte. Man ließ Deutsche und Ausländer (mit guten und rudimentären Deutschkenntnissen) modifizierte Texte lesen und maß deren Lesegeschwindigkeit. Angeblich kommt man nach kurzer Eingewöhnungszeit gut damit zurecht. Ausschlaggebend ist aber immer die subjektive Erfahrung, Gewöhnung und Lesefähigkeit der Testperson. Gegner und Befürworter halten sich mit ihren Tests und Argumenten jedenfalls die Waage.

These: Konzentration auf den Inhalt

Da das Auge nicht durch wahllos hervorgehobene Substantive abgelenkt wird, könne man sich mehr auf den Inhalt des Textes konzentrieren. Das könnte stimmen. Dasselbe Prinzip gilt ja auch für TeX (Trennung von Formatierung und Inhalt). Leider habe ich keine durchweg kleingeschriebenen Texte, außer ich würde mir selbst welche erstellen und drucken. Besser wäre für einen Versuch, daß ich einen mir fremden Textinhalt lese.

Gegenthesen

Nun ein paar Argumente der Gegner der Kleinschreibung:

Gegenthese: Versale sind notwendige Orientierungspunkte fürs Auge beim Querlesen und machen den Text »belebter«

Warum ist dieses Argument dann unerheblich in anderen europäischen Sprachen mit lateinischem Alphabet (Italienisch, Niederländisch, Französisch etc.)? Haben wir Deutschen diese besondere »Lesehilfe« nötig?

Gegenthese: Eine deutliche Kennzeichnung der Satzanfänge geht verloren

Seit wann suche ich auf einer Textseite nach Satzanfängen? Wenn überhaupt, dann suche ich Schlagworte. Außerdem gibt es gegenwirkende Vorschläge, nämlich, die satztrennende Interpunktion anzupassen (siehe Beispiele unten): Statt einfacher Punkt soll es dann ein Schrägstrich, ein Sternchen, ein fetter Punkt oder ein Punkt mit beidseitigem Leerraum sein. Bis auf den Schrägstrich (der an Satztrenner in frühen Bibelschriften erinnert) halte ich den unmerklichen Satzpunkt tatsächlich für unscheinbar, zumal er durch einen beidseitigen Freiraum eine Lücke in den Text reißt.

Gegenthese: Schlagworte lassen sich im Textgemenge schlecht finden

Das mag auf lexikalische Artikel zutreffen, nicht aber auf Prosa. Prosa lese ich von vorne nach hinten, Satz für Satz. Ein Querlesen mit der Suche nach Schlagworten entfällt bei dieser Textart.

Gegenthese: Verständnis geht beim Verzicht auf Großbuchstaben verloren

Das ist das am häufigsten angeführte Argument. Leider sind mir überzeugende Beispiele bislang nicht begegnet. Beinahe alles kann man aus dem Kontext herauslesen. Beispiele:

  • grüne Spinnen, Grüne spinnen
  • an einer Schönen Brust zu ruhen, an einer schönen Brust zu ruhen
  • der gefangene Floh, der Gefangene floh (weiß man etwa nicht, welchen Text man liest?)
  • liebe Genossen, Liebe genossen
  • die Nackte sucht zu quälen, die nackte Sucht zu quälen (gequält und erzwungen ist hier allenfalls die absurde Satzkonstruktion!)

Alle Beispiele sind Humbug.

Zu erwartende typographische Vorzüge

Probleme der Zurichtung/Unterschneidung entfallen

Probleme bei der Zurichtung betreffen fast immer Kombinationen aus Versal und Minuskel (Vo, Te, Fa und viele mehr). Mit konsequenter Kleinschreibung würden solche Probleme entfallen, denn die Minuskeln haben nicht diesen Freiraum der Versale, der irgendwie gefüllt (unterschnitten) werden müßte.

Das Satzbild wird gleichmäßiger?

Wenn etwas auf meinen Drucken von Mustertexten fleckte, dann waren es beinahe immer die Versale. Genau dann hat man gemerkt, daß hier zwei Schriften zusammengewürfelt wurden, nämlich die aus der karolingischen Minuskel weiterentwickelten humanistischen Minuskeln und die römische Versalschrift. Aber es kommt auch auf die Schriftart an, siehe Beispieltexte.

Andere typographische Berücksichtigungen

Selbstverständlich ist keine konsequente Kleinschreibung anzuwenden, wenn man chemische, physikalische oder technische Formeln setzt. Variablen und Konstanten haben festgelegte Formen (Versale oder Minuskeln, Kursive, Fette, Normale, Gebrochene, Griechisch, Hebräisch sowieso), die bei einer Veränderung sinnentstellt wären.

Man kann mit modernen Textsatzprogrammen relativ einfach selbst Versuchstexte erzeugen. In LibreOffice Writer bietet beispielsweise die Absatzformatierung für Brottext einen Schalter zum Umstellen auf Kleinbuchstaben:

Wenn man Wert auf die automatische Rechtschreibprüfung legt, muß man allerdings trotzdem einen Großbuchstaben nach heutiger Orthographie eintippen. Er wird dann nur als Kleinbuchstabe angezeigt.

Fazit

Ich bin nicht endgültig vom Nutzen der Kleinschreibung überzeugt, will aber offen dafür sein. Wenn überhaupt, kommt für mich nur die konsequente Kleinschreibung infrage, denn sie macht die wenigste Arbeit, hat die wenigsten Regeln. Als alternativen Satztrenner würde ich den Schrägstrich bevorzugen, aber auch hier müssen Regeln ausgehandelt werden (setze ich einen Schrägstrich am Ende des letzten Satzes eines Absatzes?) Man beachte außerdem die Platzersparnis (mehr Textmenge pro Seite) beim Verzicht auf jedwede Versalschreibung!

Die gemäßigte Kleinschreibung hat dagegen (gefühlt) genauso viele Ausnahmeregeln wie die moderne Orthographie zur Groß-/Kleinschreibung und erfordert Konzentration und ständiges Umdenken beim Tippen bzw. eine ganze Menge Nacharbeit bestehender Texte. Wie oben beschrieben, kann zwar per Absatzvorlage ein ganzer Text auf Kleinschreibung umgestellt werden; doch alle Eigennamen, Satzanfänge und alle anderen Ausnahmen, auf die man sich einigt (siehe Gliederungspunkt »Regeln zur konsequenten … Kleinschreibung«) muß man ja dennoch von Hand nachbearbeiten!

Vielleicht sollte man die Anwendung nach Textart unterscheiden: Prosa und liturgische Texte konsequent kleingeschrieben, informative Texte dagegen mit gemäßigter Großschreibung. Wichtig ist, daß man eine Forderung nach gemäßigter oder konsequenter Kleinschreibung nicht radikal fordert, um ihre Akzeptanz zu erhöhen. Wie bei jedem Vorbild muß dem Endanwender der Nutzen von selbst bewußt werden.

Fest steht, daß eine konsequente oder gemäßigte Kleinschreibung (ähnlich der Rechtschreib-»Reform« von 1996/2006) zwar amtlich verordnet werden könnte, sich aber gerade dadurch nicht durchsetzen wird. Wenn schon die erwähnte Reform unter den Schreibenden kaum Zuspruch gefunden hat, so wird eine Verordnung zur Kleinschreibung ganz sicher nicht gelingen. Vielmehr sollten die Befürworter mit Argumenten darlegen, warum sie der geläufigen Orthographie überlegen sein soll, und dies nicht nur in wenigen Spitzfindigkeiten, sondern allumfassend.


Textbeispiele

Das folgende Textbeispiel stammt aus einem meiner Märchen. Als Schriftart wurde die Vollkorn verwendet – eine Schriftart, bei der keine Versalfleckung auftritt. Die letzten Beispiele sind in der Times New Roman gesetzt, bei der eine deutliche Versalfleckung auftritt.


Beispiel 1: Normalsatz nach gültiger Orthographie


Beispiel 2: Konsequente (radikale) Kleinschreibung, gültige Interpunktion

Abschalten aller Versale, aber als Satztrenner stehen weiterhin einfache Punkte. Das Erkennen von Satzanfängen wird tatsächlich erschwert.

Man beachte auch, daß bei gleicher Zeilenanzahl eine Platzersparnis auftritt (mehr Textinhalt pro Seite!). Das Satzbild scheint insgesamt ausgeglichener als mit Versalschreibung.


Beispiel 3: Konsequente (radikale) Kleinschreibung, Schrägstriche statt Satzpunkte

Als Satztrenner werden nun Schrägstriche gebraucht. Satzanfänge sind nun deutlich erkennbar, ohne daß die Schrägstriche das Satzbild wesentlich stören.


Beispiel 4: Konsequente (radikale) Kleinschreibung, Sternchen statt Satzpunkte

Als Satztrenner werden jetzt Sternchen gezeigt. Die stören das Lesebild ganz erheblich und reißen unschöne Lücken.


Beispiel 5: Konsequente (radikale) Kleinschreibung, freistehende Punkte statt einfache Satzpunkte

Letzte vorgestellte Interpunktionsmöglichkeit für die konsequente Kleinschreibung: freigestellte Satzpunkte (hier ein Halbgeviert), wobei man auch andere Geviertstärken nutzen könnte. Wie erwartet, werden in den Text erhebliche Lücken gerissen. Satzanfänge werden nunmehr unnötig überbetont.


Beispiel 6: Gemäßigte Kleinschreibung

Der Text zeigt eine Großschreibung aller Satzanfänge und Personennamen, der Rest besteht aus Minuskeln. Satztrenner sind die gewohnten einfachen Punkte nach gültiger Orthographie.

Die Nachbearbeitung hat einige Minuten und Konzentration erfordert, denn ich mußte die Formatierung für alle Satzanfänge und Personennamen von Hand vornehmen. Ein wirklicher Gewinn der Arbeit ist nicht erkennbar. Vielmehr wirkt der Text jetzt ungleichmäßig – als würde man sich nicht entscheiden können, was man groß oder klein schreibt.


Beispiel 7: Normalsatz in Times

Folgendes Beispiel zeigt denselben Text, diesmal gesetzt in der Times New Roman. Man erkennt die deutliche Versalfleckung (Versale D, G, O). Abstoßend.


Beispiel 8: Konsequente Kleinschreibung mit der Times

Nach Umstellung auf konsequente Kleinschreibung ist die Versalfleckung logischerweise passé. Auch wenn ich kein Freund der Times bin, läßt sich der Text meiner Ansicht nun viel angenehmer lesen.