Wer schon einmal eine Frakturschriftart mit automatischer Buchstaben-Ersetzung verwendet hat, kennt das Problem: Plötzlich erscheinen ungewohnte Buchstaben, z. B. das lange s oder die Ligaturen ch, ck und tz (Abb. 1-1). Das kann Probleme bereiten bei der automatischen Rechtschreibprüfung des Textverarbeitungsprogramms: Wörter werden nun als fehlerbehaftet gekennzeichnet, nur weil sie nicht mit dem runden s, sondern dem langen s geschrieben werden. Aber so ist das nun einmal bei der Verwendung einer Gebrochenen Schrift: Es gelten andere Regeln als im Antiqua-Satz.
Soweit zur Einleitung. Worauf ich eigentlich hinaus will, ist das doppelte s im Auslaut einer Silbe oder eines Wortes. Am Wort ‹dass› kann das anschaulich verdeutlicht werden. Denn nach neuer Rechtschreibung endet es freilich mit einem doppelten s. Gemeint ist jedoch das runde s, wie wir es seit Jahrzehnten verwenden, oder vielmehr: seitdem die Verwendung des langen s im Antiqua-Satz unüblich geworden ist.
Nun ist es ja so, dass in Gebrochenen Schriften (im Folgenden spreche ich nur von der Fraktur als am weitesten entwickelten Leseschrift unter den Gebrochenen Schriften) kein doppeltes rundes s existieren kann. Gilt es, einen doppelten s-Laut inmitten eines Wortes zu setzen, wird ein doppeltes langes s benutzt (Abb. 1-2). Ein doppelter s-Laut kann auch an Wortfugen stehen (Abb. 1-3). – Hier gilt zu unterscheiden: Handelt es sich um den s-Auslaut, wird ein rundes s gesetzt; wird eine Silbe mit s eingeleitet, wird das lange s benutzt. Doch was ist, wenn ein doppelter s-Laut nach gegenwärtiger Rechtschreibung am Wortende stehen soll, wie in ‹dass›, ‹muss›, ‹gewiss›? Setzt man dann ebenfalls ein doppeltes langes s?
So einfach ist es leider nicht. Da ein langes s in der Fraktur niemals am Wortende stehen kann, handelt es sich bei jedem s am Wortende um ein rundes s (Abb. 1-4). Eine Fraktur-Schriftart, in denen eine Ersetzungstabelle automatisch die korrekte s-Form setzt, wird für das Beispiel ‹dass› an dieser Stelle erst ein langes, dann ein rundes s setzen (Abb. 1-5).
Woran erinnert mich dieses eigenartige Buchstabenpaar bloß? – Richtig! Ist nicht auch unser Eszett als Ligatur aus langem s und rundem s hervorgegangen? (siehe unten)
Nun stellt sich folgende Frage: Warum schreibe ich das Wort dann nicht gleich mit Eszett (Abb. 1-6)? – Antwort: Weil im modernen Deutsch durch ein Eszett oder einfaches s angezeigt wird, ob man den vorherigen Einzel- oder Doppelvokal lang oder kurz ausspricht. Das Wort ‹daß› würde dann gesprochen werden wie das Wort ‹Maß›. Richtig ist also in der Tat, das Wort (in einer Antiqua!) mit Doppel-s zu schreiben, um anzuzeigen, dass man es kurz ausspricht wie in ‹krass›.
(Dass ich, davon abgesehen, das Wort ‹Gras› mit nur einem ‹s› schreibe und den Vokal dennoch lang betone, demnach ‹Graß› schreiben müsste, darauf gehe ich hier nicht ein.)
Wie kann man so einem Dilemma entkommen?
Ich schlage vor, bei Verwendung einer Antiqua-Schriftart der gültigen Rechtschreibung zu folgen. Bei Gebrauch einer Fraktur jedoch ersetze ich ein so seltsames Buchstabenpaar direkt mit einem Eszett. In einer Fraktur schreibe ich also ‹daß›, ‹Kuß›, ‹gewiß› (Abb. 1-6) etc., und nehme die vom Textsatzprogramm hervorgehobenen, angeblichen orthografischen Fehler in Kauf.
Nebenbei: Die Schreibweise mit Eszett verbraucht weniger Platz und kann bei langen Texten einige Zeilen einsparen – das ist eben einer der Vorzüge einer Ligatur wie Eszett.
Eine weit verbreitete irrige Annahme ist, dass das heutige Eszett als Kleinbuchstaben-Ligatur aus dem langen s und einem kleinen z mit Unterlänge entstanden sei (daher der Name Es-Zett). Richtig ist, dass diese Ligatur auf die geschriebene Form, die alten Handschriften, zurückgeht und sich aus einem langen s und einem kleinen s zusammenfügt, wie dies z. B. Tschichold schlüssig zeigen kann¹. Und freilich gibt es auch Gegenstimmen sowie den Hinweis darauf, dass die Ligatur sowohl-als-auch aus s-s und s-z entstanden sein kann.
Es ist gar nicht so lange her, dass die Antiqua-Schriften mit einem Eszett ausgestattet wurden, das man sich von den Gebrochenen Schriften (vorrangig der Fraktur) abschaute. Denn jahrhundertelang wurde Deutsch in Gebrochener Schrift (Schwabacher, Fraktur) gesetzt, fast nie in Antiqua. Erst als es üblich wurde, auch das Deutsche in Antiqua zu setzen, entstand ein Bedarf nach dieser besonderen Glpyhe. Auf diesen Zeitpunkt geht das Missverständnis zurück, dass sich das Zeichen als Ligatur aus langem s und z (mit Unterlänge) zusammensetze, und dementsprechend wurde es genannt. Das führte zuweilen zu falschen Ableitungen und es entstanden seltsame Wörter wie „Ruszland“.
¹Tschichold, J. (1940): Herkunft und Form des ß in der Fraktur und der Antiqua.
Das Eszett ist ein besonderer Buchstabe, genauer: eine Kleinbuchstaben-Ligatur, die heute allgemein als eigenständiger Buchstabe betrachtet wird, und die uns heute nur noch in der deutschen Sprache begegnet (früher auch in englischen und französischen Handschriften). Gerade weil sie aus Kleinbuchstaben erwachsen ist (siehe oben), wird es unhaltbar, sie zum Versal zu vergewaltigen.
Es gibt augenscheinliche Gründe, die für die Einführung des Versal-Eszett sprechen, und zahlreiche Gründe, die eine Einführung nicht rechtfertigen.
Der Hauptgrund für seine Einführung, d.h. die Aufnahme in Unicode, ist die unbefriedigende Lösung, im deutschen Versal-Satz das herkömmliche Eszett zu verwenden, oder es gegen ein Doppel-S zu tauschen: MEIßEL und MEISSEL sind beide falsch, wenn das Werkzeug ‹Meißel› gemeint ist. Im ersten Fall steht eine Kleinbuchstaben-Ligatur inmitten von Großbuchstaben; im zweiten Fall wird der Wortsinn verändert.
Dass Eszett nicht gleich Doppel-s ist, kennen viele Menschen, in deren Name ein Eszett steckt (Frau Weiß vs. Frau Weiss). Auch Ortschaften, die eigentlich mit einem Eszett geschrieben werden, verlieren durch den Doppel-s-Ersatz ihre Identität. Denn im Deutschen entscheidet ein Eszett darüber, ob der vorherige Vokal(e) lang oder kurz gesprochen wird. Dementsprechend ist damit die Bedeutung eines Wortes verknüpft: Ungleich sind die Wortbedeutung von: Masse und Maße, Busse und Buße etc.
Nun ist es tatsächlich unschön und unrichtig, ein Eszett oder ein Alibi-Doppel-S im Versal-Satz einzusetzen. Naheliegend wäre in der Tat die Verwendung einer Glyphe, die zu den Großbuchstaben passt. Das Problem dabei: Das Eszett gab es nie als Großbuchstaben, es ist weder aus einem entstanden, noch ist es sinnhaftig, ein Eszett als Großbuchstaben zu deklarieren.
Wie nun kann man sich aus der Misere retten? – Die Lösung ist erstaunlich einfach:
Tatsächlich ist in vielen Fällen der Versal-Satz gar unnötig oder fadenscheinigen Gründen geschuldet, etwa der besseren Texterkennung:
Bei Verwendung einer Gebrochenen Schrift (insbesondere der Fraktur) kommt eine neumodische Missgeburt wie ein Versal-Eszett selbstverständlich nicht infrage!
Hinzu kommt: Die neue Versal-Eszett-Glyphe ist nur in wenigen Schriftarten enthalten, und ob sie für die großen Klassiker (z.B. eine Garamond, eine Bodoni, eine Caslon etc.) nachgereicht wird, ist fraglich.