Wer schon einmal eine Frakturschriftart mit automatischer Buchstaben-Ersetzung (Heuristik) verwendet hat, kennt das Problem: Plötzlich erscheinen ungewohnte Buchstaben, z.B. das lange s oder die Ligaturen ch, ck und tz (Abb. 1-1). Das kann Probleme bereiten bei der automatischen Rechtschreibprüfung des Textverarbeitungsprogramms: Wörter werden nun als fehlerbehaftet gekennzeichnet, nur, weil sie nicht mit dem runden s, sondern dem langen s geschrieben werden. Aber so ist das nun einmal bei der Verwendung einer gebrochenen Schrift: Es gelten andere Regeln als im Antiqua-Satz.
Soweit zur Einleitung. Im folgenden spreche ich nur von der Fraktur als der am weitesten entwickelten Leseschrift unter den gebrochenen Schriften.
Für das Doppel-s mitten im Wort wird ein doppeltes langes s benutzt (Abb. 1-2). Ein doppelter s-Laut kann auch an Wortfugen stehen (Abb. 1-3). – Hier gilt zu unterscheiden: Handelt es sich um den s-Auslaut, wird ein rundes s gesetzt; wird eine Silbe mit s eingeleitet, wird das lange s benutzt.
Da ein langes s in der Fraktur niemals am Wortende stehen kann, handelt es sich bei jedem s am Wortende um ein rundes s (Abb. 1-4).
Kompliziert wird es mit dem Doppel-s, das nach »neuer«, d.h. »reformierter« Rechtschreibung am Silbenauslaut oder Wortende zu stehen hat. Wörter wie »dass« (Abb. 1-5), »Kuss«, »Fluss«, »Fass«, »gewiss« würden durch die automatische Heuristik gesetzt werden erst mit einem langen, dann mit einem runden s. Eine Konstruktion wie diese kann es in gebrochenen Schriften aber nicht geben!
Ein Ausweg aus dem Dilemma ist ganz einfach: Beim Setzen gebrochener Schriften ist die traditionelle, bis 1996 gültige Rechtschreibung anzuwenden (Abb. 1-6)!
Eine weitverbreitete irrige Annahme ist, daß das heutige Eszett als Kleinbuchstaben-Ligatur aus dem langen s und einem kleinen z mit Unterlänge entstanden sei (daher der Name Es-Zett). Richtig ist, daß diese Ligatur auf die geschriebene Form, die alten Handschriften, zurückgeht und sich aus einem langen s und einem kleinen s zusammenfügt, wie dies z.B. Tschichold schlüssig zeigen kann¹. Und freilich gibt es auch Gegenstimmen sowie den Hinweis darauf, daß die Ligatur sowohl-als-auch aus s-s und s-z entstanden sein kann.
Es ist gar nicht so lange her, daß die Antiqua-Schriften mit einem Eszett ausgestattet wurden, das man sich von den gebrochenen Schriften (vorrangig der Fraktur) abschaute. Denn jahrhundertelang wurde Deutsch in gebrochener Schrift (Schwabacher, Fraktur) gesetzt, fast nie in Antiqua. Erst als es üblich wurde, auch das Deutsche in Antiqua zu setzen, entstand ein Bedarf nach dieser besonderen Glpyhe. Auf diesen Zeitpunkt geht das Mißverständnis zurück, daß sich das Zeichen als Ligatur aus langem s und z (mit Unterlänge) zusammensetze, und dementsprechend wurde es genannt. Das führte zuweilen zu falschen Ableitungen und es entstanden seltsame Wörter wie »Ruszland«.
¹Tschichold, J. (1940): »Herkunft und Form des ß in der Fraktur und der Antiqua«.
Das Eszett ist ein besonderer Buchstabe, genauer: eine Kleinbuchstaben-Ligatur, die heute allgemein als eigenständiger Buchstabe betrachtet wird, und die uns heute nur noch in der deutschen Sprache begegnet (früher auch in englischen und französischen Handschriften). Gerade weil sie aus Kleinbuchstaben erwachsen ist (siehe oben), wird es unhaltbar, sie zum Versal zu vergewaltigen.
Es gibt augenscheinliche Gründe, die für die Einführung des Versal-Eszett sprechen, und zahlreiche Gründe, die eine Einführung nicht rechtfertigen.
Der Hauptgrund für seine Einführung, d.h. die Aufnahme in Unicode, ist die unbefriedigende Lösung, im deutschen Versal-Satz das herkömmliche Eszett zu verwenden, oder es gegen ein Doppel-S zu tauschen: MEIßEL und MEISSEL sind beide falsch, wenn das Werkzeug »Meißel« gemeint ist. Im ersten Fall steht eine Kleinbuchstaben-Ligatur inmitten von Großbuchstaben; im zweiten Fall wird der Wortsinn verändert.
Daß Eszett nicht gleich Doppel-s ist, kennen viele Menschen, in deren Name ein Eszett steckt (Frau Weiß vs. Frau Weiss). Auch Ortschaften, die eigentlich mit einem Eszett geschrieben werden, verlieren durch den Doppel-s-Ersatz ihre Identität. Denn im Deutschen entscheidet ein Eszett u.a. darüber, ob der vorherige Vokal(e) lang oder kurz gesprochen wird. Dementsprechend ist damit die Bedeutung eines Wortes verknüpft: Ungleich sind die Wortbedeutung von: Masse und Maße, Busse und Buße etc. (Seine zweite Bedeutung ist in der Verschriftlichung – zur Erhöhung der Lesbarkeit – der Ersatz des Doppel-s, wenn kein Vokal folgt).
Nun ist es tatsächlich unschön und unrichtig, ein Eszett oder ein Alibi-Doppel-S im Versal-Satz einzusetzen. Naheliegend wäre in der Tat die Verwendung einer Glyphe, die zu den Großbuchstaben paßt. Das Problem dabei: Das Eszett gab es nie als Großbuchstaben, es ist weder aus einem entstanden, noch ist es sinnhaft, ein Eszett als Großbuchstaben zu deklarieren.
Wie nun kann man sich aus der Misere retten? – Die Lösung ist erstaunlich einfach:
Ist im zu setzenden Text ein Eszett enthalten, wird kein Versal-Satz verwendet!
Tatsächlich ist in vielen Fällen der Versal-Satz gar unnötig oder fadenscheinigen Gründen geschuldet, etwa der besseren Texterkennung:
Bei Verwendung einer gebrochenen Schrift (insbesondere der Fraktur) kommt eine neumodische Mißgeburt wie ein Versal-Eszett selbstverständlich nicht infrage!
Hinzu kommt: Die neue Versal-Eszett-Glyphe ist nur in wenigen Schriftarten enthalten, und ob sie für die großen Klassiker (z.B. eine Garamond, eine Bodoni, eine Caslon etc.) nachgereicht wird, ist fraglich.