Leitgedanken des Naturforschers und Wissenschaftlers

v2.06 vom 05.07.2024


Was ist Wissenschaft? – In einem Wort: Der Erkenntniszugewinn auf Grundlage von Messungen und Beobachtungen, Mathematik und Logik. Die Natur erscheint in vielerlei Hinsicht, als würde sie von chaotischen, zufälligen Einflüsse bestimmt, die sich in keine Gesetzmäßigkeit fassen lassen (andernfalls könnte man das Wetter taggenau für die nächsten tausend Jahre voraussagen). Was der Mensch Chaos heißt, ist in Wahrheit seine Unzulänglichkeit, die „gesetzlosen“ Ereignisse hinreichend erklären zu können. Die Wissenschaft steht dem entgegen, aber nur dann ernsthaft und wirksam, wenn sie (a) Beobachtung/Messung und Deutung strikt trennt, und (b) auf der Grundlage von interpretierbaren Versuchen und Beobachtungen vorgenommen wird.


Maxime I — Der Wissenschaftler ist der Wahrheit seiner Angaben verpflichtet.

Der Wissenschaftler dokumentiert und publiziert, was wahr ist. Das Unplausible kann Teil dieser Wahrheit sein, solange sie so benannt wird. Wer Meß- oder Beobachtungsdaten vorsätzlich verfälscht oder unbegründet zensiert, der dient nicht der Wissenschaft; der ist einem unwissenschaftlichen Ideal hörig. Es gibt dahingehend einen wissenschaftlichen Leumund, den man nur ein einziges Mal verlieren, aber nie wieder zurückgewinnen kann.


Maxime II — Beobachtungen (Messungen) und die Deutung derselben sind strikt zu trennen.

Zur Tradierung:

Es wird nur tradiert, was gemessen oder beobachtet wurde. Dabei werden alle Bedingungen vermerkt, die auf Meßwerte oder Beobachtungen Einfluß haben oder haben könnten. Die Erhebung neuer Daten ist der Auswertung bestehender Daten vorzuziehen, solange nicht anzunehmen ist, daß die dazwischenliegende Zeit zu einer maßgeblichen Veränderung des Untersuchungsgegenstandes geführt hat (z.B. Verwitterung von Gesteinsmaterial) und damit sowohl Meßdaten als auch Dokumentationsaufzeichnungen ihren Vergleichswert verlieren. Meßbare Daten werden (wenn möglich) statistisch durch Mehrfachmessungen oder -beprobungen abgesichert. Originalaufzeichnungen und -proben werden stets aufbewahrt, bis das Arbeitsprojekt endgültig abgeschlossen ist; so bleiben Daten auch für spätere Forschung interpretierbar.

Zur Deutung (Interpretation):

Die Interpretation von Beobachtungsdaten hat zum Ziel, die gemessenen Werte plausibel herzuleiten. Jede Tatsache verdient eine Begründung (siehe Maxime III). Andere Forschungsgedanken zum Arbeitsobjekt müssen stets kritisch gesehen und mit eigenen Beobachtungsdaten verglichen werden. Besteht die Möglichkeit, dieselbe Messung mit einer modernen Apparatur vorzunehmen, werden durch alte Verfahren erhaltene Meßwerte beibehalten. Ein Versuch oder eine Nachstellung unter gleichen Bedingungen muß stets zum gleichen Ergebnis führen und plausibel erklärbar sein. Sie muß auf elementarchemische (Elementarbindungen u.a.) oder grundlagenphysikalische (Grundkräfte, Konstanten) Ursachen zurückzuführen sein.


Maxime III — Der Kern jeder Wissenschaft ist das Weshalb.

Die Beschreibung eines natürlich auftretenden Phänomens oder eines Wirklichkeitsgegenstands ist immer nur die halbe Wahrheit. Es gilt zu ergründen, warum die Dinge sind, wie sie sind. Beobachtungsdaten ohne deren Deutung sind wertlos. Es gilt festzustellen, ob Korrelationen kausal begründbar sind oder eine andere Ursache haben.

Im Beispiel

Die Größe einer Naturkonstante.
Die Farbe eines Stoffes.
Die Form eines Tieres.
Die Funktion eines Pflanzenteils.
Die Härte eines Minerals.
Die Genese einer geologischen Schichtenfolge.
Der Vektor einer Galaxie.

Es ist gleichermaßen wissenschaftlich, Beobachtungen plausibel erklären zu können, wie auch die Erkenntnis, daß sie (bislang) nicht erklärt werden können. Das Eingestehen von Unwissenheit ist wissenschaftlich. Die Bestätigung einer bekannten Erkenntnis ist ebenso wissenschaftlich wie das Eingeständnis, daß die Forschung keine neuen Erkenntnisse gewinnen ließ. Daher gibt es für den Wissenschaftler auf Ja-Nein-Fragen stets drei Antworten: nämlich „Ja“, „Nein“ sowie „Ich weiß über das Thema nicht genug, um eine begründete Antwort geben zu können“.

Im Beispiel

Bei der Interpretation sind Vermutungen oder Konjunktiv II mit Vorsicht zu veräußern. Wichtiger sind konkrete Feststellungen: „Die feinkristalline Matrix des Vulkanits kann nur durch rasche Abkühlung erklärt werden.“, „Der polygonale Abkühlungsklüfte von Basaltsäulen werden durch die Lage der Abkühlungsfläche zur Nebengesteinswand bestimmt.“


Maxime IV — Der Wissenschaftler ist demütig.

Die Menschheit wird niemals alles wissen – diese Erkenntnis ist elementar. Und was sie weiß, zu dem wird immer ein Restzweifel um seine korrekte Deutung bleiben. Wissenschaft ist ausschließlich ein Streben zur bestmöglichen Erklärung, die auf Grundlage bestehenden Wissens und bestehender Technik möglich ist. Daher gilt als unentschuldbare Überheblichkeit, eine bestimmte Disziplin für abgeschlossen erforscht zu erklären.

Im Beispiel

Manche Gegenstände werden grundsätzlich niemals in Erfahrung gebracht werden können (verfallene Stätten in der Archäologie, verbrannte Bücher der Azteken; das Innere von Schwarzen Löchern in der Kosmologie), andere lassen entsprechend Fundzufall neue Erkenntnisse erahnen (unberührte Gräber in der Ägyptologie, in Gletschern oder Permafrost eingefrorene Mumien, durch geologische Bohrungen aufklärende Informationen zum Untergrund).

Wissenschaftlich anmutende Verlautbarungen (aktuelle Berichte aus der Forschung) dürfen nie als finale wissenschaftliche Erkenntnis angesehen werden. Stattdessen wird die Zeit (Jahrzehnte, Jahrhunderte) mit weiteren Forschungsergebnissen zeigen, welche der in diesem Zeitraum verlautbarten und vertretenen Meinungen (und nichts anderes sind sie  bis dahin!) sich als tatsächlicher Wissenszuwachs herausstellen.

Im Beispiel

Die Verkündung der Entdeckung „der ältesten jemals beobachteten Galaxie“ oder „der ältesten je in Bernstein gefundenen Ameise“ ist schlichtweg unwissenschaftlich. Besser lautete die Ausdrucksweise „Galaxie mit einem Alter von X Millionen Jahren beobachtet“ bzw. „Fund eines Vertreters der Formicidae in einem X Millionen Jahre alten Bernstein“. Paradebeispiel ist das Ausrufen des sog. Anthropozäns, das aus dem sehr, sehr engen Blickwinkel des modernen Menschen ohne Notwendigkeit oder ernsthaftes Ergebnis definiert wurde, wohingegen Stratigraphen der Erdgeschichte (die also in einem Zeitraum forschen, der zur Gliederung des Erdalters berechtigt) kaum ein Auge für subholozäne Momentaufnahmen haben.


Maxime V — Computergestützte Forschung ist prinzipbedingt begrenzt.

Ein Computer kann (unterstützend) Meßdaten erfassen, verarbeiten, speichern und darstellen. Aber nur ein Mensch kann sie hinsichtlich ihrer Plausibilität bewerten (z. B. Erkennen von Ausreißern im Kontext der Messung oder Methode). Vorgebliche Erkenntnisse, die auf Modellen und Simulationen basieren, sind unwissenschaftlich, sofern sie eine oder mehr subjektive Parametervorgaben oder Annahmen erlauben (siehe auch Maxime VI).

Im Beispiel

Die Grenze zwischen Wissenschaft und Nichtwissenschaft wird erreicht, wenn bereits bekannte Berechnungen mithilfe von Computern in ungeahnter Präzision betrieben werden: Wem nutzt die zehnmillionste Nachkommastelle von Pi? — Anders verhält es sich gegebenenfalls, wenn eine Naturkonstante exakter als bisher bestimmt werden kann, sofern sie als Ausgangswert für weitere Berechnungen dient. Gemeint sind allerdings nicht weiterführende Modellrechnungen.


Maxime VI — Wissenschaft bedeutet „rückwirkendes Verständnis“: Eine Erklärung folgt der Beobachtung, nicht umgekehrt.

Die Ableitung wissenschaftlicher Erkenntnisse kann nur aus Beobachtungen und Messung von Tatsachen abgeleitet werden. Dies impliziert, daß Vorhersagen (Prognosen) nicht wissenschaftlich sein können, auch keine „angewandte“ Wissenschaft sind. Jede Aussage, die auf Wahrscheinlichkeit basiert, ist keine Wissenschaft.


Maxime VII — Forschungs- oder Studienfelder, die keine objektiv meßbaren Ergebnisse zulassen, sind keine Wissenschaft.

Etwas, das bei jedem Versuch (mit einem Menschen) andere Meßergebnisse erlaubt, ist keine Wissenschaft – dies trifft insbesondere für die Sozial„wissenschaften“ zu. Die Qualität von Meßergebnissen wird stets von der angewandten Apparatur oder Methode abhängig sein. Durch statistische Verfahren können gemittelte Aussagen erreicht werden.

Im Beispiel

Traumursachenforschung, Psychologie, Ursache von Depressionen oder bestimmten Erkrankungen, denen man mit Probanden-Statistik und Korrelation zu begegnen versucht. Wissenschaftlich (durch nachvollziehbaren Versuchsaufbau) ist dagegen z. B. eine Schattenstabmessung.


Maxime VIII — Die wissenschaftliche Publikation kennt Pflichten und Rechte.

Der Wissenschaftler nimmt das Recht wahr, seine Erkenntnisse solange zurückzuhalten, wie er an offenen Fragen arbeitet oder die Dateninterpretation anzweifelt. Der Wissenschaftler nimmt die Pflicht wahr, im Falle einer Veröffentlichung seine erarbeiteten Daten für eine Überprüfung bereitzustellen.

Im Beispiel

Für die Veröffentlichung von Forschungsergebnissen besteht keine moralische Verpflichtung. Ein Forscher muß auch frei und nur für sich forschen dürfen. Glaubwürdig ist es, wenn nicht jede Einzelerkenntnis in einer Publikation mündet (wie man das bei Diplomanden und Doktoranden kennt), sondern Daten, Thesen und Erläuterungen in einem größeren Kontext gesammelt werden, um sie in einem umfangreichen Werk zu veröffentlichen. Beispiele sind Darwins Entstehung der Arten oder Wegeners Plattentektonik. Gleichwohl ist die Veröffentlichung selbstverständlich uneingeschränkt geboten, wenn sie aus öffentlichen Geldern finanziert wurde.


Maxime IX — Der Wissenschaftler ist solange Wissenschaftler, wie seine Forschung nicht die natürlichen Zustände gefährdet oder zerstört.

Der Wissenschaftler läßt sich nie dazu hinreißen, mit den Ergebnissen seiner Forschung die Natur maßgeblich zu verändern, schon gar nicht in eigener Verantwortung oder entsprechend politischer Doktrin.

Im Beispiel

Der Naturforscher kann die natürlichen Prozesse und Erscheinungen dokumentieren und deuten (Himmelsphänomene, Vulkanologie), aber er darf sich nicht anmaßen, sie zu seinen Gunsten zu verändern (Geoengineering: Solarpaneele im Weltraum, Düngung der Meere, Wolkenimpfung u. ä.). Ebenso muß der Wissenschaftler mutig sein, auf seine Forschung zu verzichten, wenn die Gefahr besteht, die Natur nachhaltig zu zerstören (Fusionsbombenzündung im Ozean bei einer möglichen Kettenreaktion).

Bei all dem darf der Mensch nicht vergessen, wie geringfügig er im Groß des Planeten und des Weltalls, der Gesamtheit aller Dinge ist. Mit Neugierde und Bescheidenheit möge er sich der Erforschung der Wirklichkeit widmen.